Wittstock/Zempow. Nach endloser Fahrt durch den Wald taucht plötzlich die rote Backsteinkirche von Zempow aus dem Grün. Das brandenburgische 140-Seelen-Dorf zwischen Rheinsberg und Wittstock an der Grenze zu Mecklenburg besteht aus einer Handvoll Häusern und liegt fast am Ende der Welt. Die hügelige Landschaft mit endlosen Weiden und Waldstreifen ist schön, aber karg. In der Dorfmitte geht es nach links – zur Bio Ranch. Dort werden „Rinderseminare“ und „Ranch-Safaris“ für gestresste Städter angeboten.
Zempow ist der Lebensmittelpunkt von Landwirt Dr. Wilhelm Schäkel, der hier mit seiner Freundin und zwei Kindern lebt und arbeitet. Das Spezialgebiet des 47-Jährigen sind Kühe, die rings um Zempow auf den Weiden stehen. Es sind Kreuzungen aus stattlichen Angus- und Limousin-Rindern, die in „Familienverbänden“ von Bulle, Kuh und Kalb in kleineren Herden das ganze Jahr über auf den Wiesen stehen.
Die Tiere kennen keinen Stall und wissen nicht, wie es ist, angebunden zu sein. Manche tragen in ihrem Computer-Pass sogar einen Namen. Schäkel hat etwa 480 Stück Vieh, das er vielfältig nutzt. Hauptsächlich für die Biofleisch-Produktion.
Auf seinem Anwesen lernen andere Landwirte zudem eine Art „Kuhflüstern“ nach der Stockmanship-Methode: Mit dieser Low-Stress-Technik aus den USA kann man Rinderherden lenken – ohne die Tiere einzuschüchtern oder sie zu ängstigen. Schäkel kann damit problemlos eine Kuh aus der Mitte einer Herde herauslösen oder in aller Ruhe allein eine Herde umdirigieren. Neben dem Wissen, wie ein Rindvieh tickt, muss er sich dafür auch „entschleunigen“, denn Kühe sind nur halb so schnell wie Menschen. Der Bauer mit dem Doktortitel, der das Fachgebiet „Kommunikation“ liebt, hat neben Reitbetrieb und Ferienhaus-Vermietung noch einen weiteren Erwerbszweig entdeckt: die Kuh als Therapeutin für Städter.
Damit steht er nicht allein. Nach dem holländischen Vorbild des „Koe knuffelen“ (Kuhkuscheln) entdeckt man auch in Deutschland vereinzelt Landwirte, die die Kuh als beruhigendes Streichelobjekt für Großstädter einsetzen. Die Familie Möller vom Bergwaldhof in Meinerzhagen sagt, dass sich jeder, der beim „Kuhkuscheln“ den Atem einer Kuh und ihren Herzschlag spüre, sofort entspanne: „Beim Streicheln geht es nur um Gefühl“, sagt Landwirt Falko Möller. Wo es um Gefühle geht, setzt auch Biobauer Schäkel aus Zempow an. Doch das Kuscheln mit den Weidetieren ist bei ihm nicht erlaubt. „Die Tiere zu kraulen, wäre eine Zumutung für sie“, sagt Schäkel. In Zempow darf man nur das Kälbchen „Gonzo“ streicheln, das an Menschen gewohnt ist, weil es mit der Flasche aufgezogen wurde. Auch die Gotland-Schafe und Esel „Otto“ haben keine Berührungsängste.
Schäkel führt dagegen Manager, Feriengäste und Schulklassen in seine Rinderherden, um ihnen Einfühlung und Geduld beizubringen. Doch zuerst kommt die Theorie. Die Besucher erfahren, dass die Kuh mit ihrem großen Blickwinkel weit nach hinten sehen kann und dass sie erschrickt, wenn man sich direkt von vorn nähert. „Man muss sich in die Kuh einfühlen, dann kann man mit ihr kommunizieren“, sagt Schäkel. „Die Tiere spiegeln die Psyche des Menschen eins zu eins wider. Wer Angst hat, macht auch den Kühen Angst.“
Dann stehen die Gäste mitten zwischen den Tieren auf der Weide – ein seltenes Erlebnis. Erste Aufgabe: Der Kuh soll ein sanfter Impuls gegeben werden, damit sie in eine bestimmte Richtung trottet. Gar nicht so einfach: sich langsam seitlich nähern und dem Tier mit winzigen Bewegungen und sehr viel Ruhe die Richtung vorgeben. So erkennen angehende Manager mitten in der Herde, dass Führung ohne Einfühlungsvermögen und Geduld nicht möglich ist. „Wer sich wie ein Raubtier benimmt oder Druck ausübt, stößt nur auf Abwehr – und erreicht gar nichts“, sagt Schäkel.
von Ela Dobrinkat, 29.10.2009. (Gesund Magazin)
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Zur Person „Wer Tiere für die Fleischerzeugung hält, schuldet ihnen sehr viel Achtung und Zuwendung“, sagt Dr. Wilhelm Schäkel. Der 47-jährige Sohn eines Landwirts aus dem westfälischen Petershagen, der zunächst als Agrarökonom am Thünen Institut in Braunschweig forschte, ist diplomierter Landwirt. Er studierte aber auch Philosophie. Sein Spezialgebiet: Kommunikation. 1992 zog er nach Zempow, wo er mit Freunden verschiedene Unternehmen gründete. Heute ist er Geschäftsführer der Bio Ranch, die hauptsächlich von der Vermarktung des Bio-Rindfleisches und dem Landurlaub lebt. Für die Zukunft hofft Schäkel auf mehr „Rinderseminare“ und „Erlebnisfahrten“ in seine Herden.
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